FDP-Politiker schlägt wegen Bürokratie in Deutschland Alarm
Benjamin Strasser (FDP) hat als Justiz-Staatssekretär den Bürokratieabbau der Ampel koordiniert. Nun schlägt er einschneidende Maßnahmen vor, um das Problem zu lösen.
Überflüssige Bürokratie kostet die Bundesrepublik jedes Jahr 146 Milliarden Euro an entgangener Wirtschaftsleistung. Trotz dieses enormen Schadens und trotz vier großer Bürokratieentlastungsgesetze hat sich die Zahl der Gesetze auf Bundesebene von 80.000 im Jahr 2010 auf heute 96.000 erhöht. Warum kriegen wir die Bürokratie nicht unter Kontrolle?
Ganz offensichtlich gab es bisher nicht die politischen Mehrheiten dazu. Ich habe das in meiner Arbeit in den letzten drei Jahren erlebt: Bürokratieabbau hat etwas mit dem eigenen Menschenbild zu tun. Wenn Sie glauben, dass der Mensch grundsätzlich anleitungsbedürftig und unmündig ist, dann müssen Sie möglichst viele Regeln schaffen, um den Einzelnen vor seinen Mitmenschen zu schützen. Als Liberale teilen wir dieses Menschenbild nicht, wir trauen den Menschen etwas zu. In der Ampel-Koalition sind diese unterschiedlichen Menschenbilder aufeinandergeprallt wie wahrscheinlich in keiner anderen Konstellation zuvor. Wir haben zwar das größte Bürokratieabbau-Paket der Geschichte auf den Weg gebracht, sind aber den entscheidenden Stellen an Grenzen gestoßen.
Sie haben in der Ampel als Parlamentarischer Staatssekretär im Justizministerium den Bürokratieabbau im Bund koordiniert. Die jährlichen Bürokratie-Kosten sind seit 2011 um 27 Milliarden Euro angestiegen. Der Großteil dieses Anstiegs, nämlich 16,2 Milliarden Euro, geht auf die Ampel-Regierung zurück. Haben Sie versagt?
Nein. Man muss sich ansehen, wo der Anstieg verursacht wurde. Allein die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro hat zu zusätzlichen Bürokratiekosten von 9 Milliarden Euro geführt, das Heizungsgesetz von Herrn Habeck hat ebenfalls massiv dazu beigetragen. Ich habe versucht, die Herangehensweise an Bürokratieabbau zu ändern. Bisher hat man ausschließlich die Mitarbeiter in den Ministerien gebeten zu entscheiden, welche Normen so schlecht sind, dass man sie wieder abschaffen kann. Man hat also die befragt, die die Regeln selbst geschrieben haben. Kein Wunder, dass dabei nicht viel zusammenkommt. Das letzte Bürokratieabbaugesetz der Großen Koalition ist gescheitert, weil die Ministerien gesagt haben: „Es gibt keine Bürokratie mehr, die man noch abbauen kann“. Völlig absurd! Deshalb sind wir anders vorgegangen.
Nämlich?
Ich habe meine Arbeit damit begonnen, zum ersten Mal die von Bürokratie Betroffenen selbst zu fragen. Ich bin auf die Verbände zugegangen und habe sie in einer digitalen Verbändeabfrage gebeten, mir ihre Top 10 der Vorschläge zu liefern, die ihr Leben einfacher machen würden. Da kamen innerhalb von wenigen Wochen 442 konkrete Vorschläge zusammen. Ich habe dann die Ministerien gezwungen, zu jedem Vorschlag eine Einschätzung zu schreiben, die dann veröffentlicht wurde. Das war eine hitzige Diskussion. Ministerien machen Bürokratieabbau nämlich sehr ungern kontrollierbar. Jedenfalls hat das den Druck auf die Ministerien so erhöht, dass wir immerhin dieser 115 Vorschläge umsetzen konnten.
Können Sie Beispiele dafür nennen?
Zum Beispiel sind seit Jahresbeginn Hotels nicht mehr dazu verpflichtet, von Gästen Meldezettel ausfüllen zu lassen. Das spart den Betrieben viele Millionen Arbeitsstunden. Außerdem haben wir die Schwellenwerte zur Bilanzierung und Rechnungslegung erhöht. Das bedeutet, dass viele Betriebe des Mittelstands gar nicht mehr bilanzieren müssen, was eine wahnsinnige Entlastung für die Unternehmen ist. Generell ist allein das Anheben von Schwellenwerten eine ungeheure Hilfe für kleinere Unternehmen.
Das Problem ist, dass all das nicht reicht. Beim Bürokratieabbau braucht es den großen Wurf. Gibt es Ideen, wie dieser Gelingen kann?
Ja, die gibt es. Ich glaube, dass wir zuallererst eine Bürokratiebremse im Grundgesetz verankern müssen. Wir sehen es an der Schuldenbremse, die Politiker jetzt zum Sparen zwingt. Deswegen ist der Aufschrei riesig, denn Politiker sparen nicht gerne. Doch die Prioritätensetzung im Haushalt ist genau das, was wir brauchen, und sie ist das direkte Ergebnis der Schuldenbremse. Wenn wir es schaffen, ein ähnliches Instrument für den Bürokratieaufwuchs verfassungsfest zu machen, dann zwingen wir die Parteien dazu, den schönen Worten auch konkrete Taten folgen zu lassen. Sie müssen sich fragen, welche Gesetze braucht es, um unser Zusammenleben zu regeln.
Wie genau soll solch eine Bürokratiebremse aussehen?
Mein Wunsch wäre, dass eine solche Bremse das sogenannte „1 in, 2 out“-Prinzip beinhaltet: Für jeden Euro, der an zusätzlichem Erfüllungsaufwand für Bürger und Unternehmen verursacht wird, müssen an anderer Stelle zwei Euro abgebaut werden. Das wäre ein echter Gamechanger.
Sie haben sich nun auf Regierungsebene drei Jahre mit dem Thema Bürokratieabbau beschäftigt. Was wird passieren, wenn wir diesbezüglich nicht bald Fortschritte machen?
Mein Eindruck ist: Wenn wir das Bürokratieproblem nicht lösen, gefährdet das unsere Demokratie, weil die Bürger das Vertrauen in den Staat verlieren. Schon heute erleben die Menschen den Staat als handlungsunfähig. Auf der einen Seite kriegt jemand, der seinen Wagen falsch geparkt hat, innerhalb von drei Tagen einen Bußgeldbescheid nach Hause geschickt. Auf der anderen Seite gelingt es uns aber nicht, Gefährder und Kriminelle abzuschieben. Dieses mangelnde Vertrauen in staatliche Strukturen nimmt zu, wenn wir nicht schnell etwas ändern. Noch nie hatte der Staat so viel Personal wie heute. Noch nie hatte der Staat so viele Befugnisse wie heute. Und noch nie wurde der Staat als so handlungsunfähig wahrgenommen wie heute. Das ist brandgefährlich.
Das heißt? Wir brauchen eine grundlegende Staatsreform?
Ganz genau. Das ist ein gewaltiges Projekt, aber davor können wir uns als Politik und Gesellschaft nicht drücken. Wir haben zu viele Bundesländer, zu viele Behörden, zu viele Verwaltungseinheiten, die sich zu wenig zuständig fühlen. Und wir sind viel zu wenig digital, viel zu ineffizient, viel zu langsam. Deswegen wollen wir eine Föderalismus-Kommission, um Zuständigkeiten neu zu ordnen, so dass der Staat als solcher wieder besser funktioniert.
Nun kommt aber mehr als die Hälfte aller deutschen Gesetze aus der EU, die Masse kriegt man auch mit einer Staatsreform nicht gebändigt.
Das ist richtig. Tatsächlich stammen fast 60 Prozent der Gesetze, die hier als Belastung empfunden werden, von der EU-Kommission. Viele deutsche Politiker benutzen das aber nur als Ausrede, als seien Vorgaben aus Brüssel schicksalhaft vorbestimmt. Das sind sie nicht. Wir haben uns deshalb Frankreich als strategischen Partner gesucht, um Bürokratieabbau auf EU-Ebene voranzubringen. Zuletzt waren wir auf Werbetour in Europa, in Estland, Polen, Tschechien, Italien und Dänemark, wo wir viel Unterstützung für unsere Initiative bekommen haben. Jetzt muss es endlich auch auf europäischer Ebene gelingen, Normen wieder zurückzudrehen.
Ist gerade für einen Liberalen der Bürokratieabbau nicht auch ein zweischneidiges Schwert? Der wichtigste Grund für die Existenz von Bürokratie ist, den Bürger mit Rechten gegenüber dem Staat zu versehen. Je weniger reguliert wird, desto mehr Raum für staatliche Willkür. Nach welchen Kriterien trennen Sie notwendige von überflüssigen Gesetzen?
Formale Kriterien gibt es leider nicht, das macht die ganze Arbeit mühselig und kleinteilig. Sicherlich braucht es Regeln und ein gewisses Mindestmaß an Bürokratie. Aber in dem Zustand sind wir schon lange nicht mehr. Zumindest gibt es Faustregeln, an die man sich halten kann. Zum Beispiel kann man sagen, dass Berichtspflichten generell sehr problematisch sind. Das ist ein weites Feld, auf dem wir für viel Entlastung sorgen können. Oft können Bürger und Unternehmen überhaupt nicht mehr nachvollziehen, warum der Staat diese oder jene Information braucht, warum sie ihn überhaupt etwas angeht. Und wenn die Information dann auch noch von mehreren Behörden abgefragt wird, dann ist klar ersichtlich, dass wir hier die Grenze des Notwendigen überschritten haben.
Tatsächlich ist viel von dem, was wir heute Bürokratie nennen, von den Bürgern eingefordert worden, wie zum Beispiel Kinderschutz, Arbeitnehmerschutz, Umweltschutz oder Verbraucherschutz. Das heißt: Jeder Abbau von Bürokratie wird zu einem Aufschrei führen.
Niemand will den Schutz unserer Kinder, der Umwelt oder der Verbraucher kippen, das ist doch ganz klar. Generell muss sich die Politik aber von dem Anspruch verabschieden, immer Einzelfallgerechtigkeit herstellen zu können. Wir werden es durch kein Gesetz dieser Welt schaffen, alle Ungerechtigkeiten in Deutschland zu beseitigen. Das darf nicht Anspruch der Politik sein. Und es sollte auch nicht der Anspruch eines selbstbestimmten und mündigen Bürgers an die Politik sein. Der Staat darf nicht jeden Bereich des Lebens zu Tode regulieren. Das heißt aber auch, dass ich es als Bürger aushalten muss, dass es hin und wieder gewisse Ungerechtigkeiten im Leben gibt.
Was ist das Absurdeste, das Sie zum Thema Bürokratie bisher erlebt haben?
Da fällt mir eine Geschichte ein, die ist noch gar nicht so lange her. Ein Bäckermeister schrieb mir, dass das Gesundheitsamt ihn aufgefordert hatte, die rauen Fliesen in seiner Bäckerei rauszureißen. Der Grund: In den feinen Rillen würde sich Mehlstaub festsetzen. Dieser könnte dann schimmeln und auf die Backwaren übergehen. Das sei ein Gesundheitsrisiko für die Kunden. Also hat der Bäckermeister die rauen Fliesen rausgerissen und glatte Fliesen verlegen lassen. Ein halbes Jahr später kam die Berufsgenossenschaft und sagte: „Um Gottes Willen, glatte Fliesen! Unfallgefahr, da könnten Mitarbeiter ausrutschen, verlegen Sie sofort raue Fliesen“. Die Geschichte ist absurd, zeigt aber, wie weit es in Deutschland gekommen ist. Der Bäckermeister befindet sich nun in einem Zustand der aufgedrängten Illegalität: Egal, was er macht, er bricht das Gesetz. So etwas können wir nicht länger hinnehmen.